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Essay: Sieben Mittel gegen Hassreden und Falschmeldungen

  • wolframs2004-blue
  • 17. Juni
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 27. Juni

Eine Frau sitzt an einem Tisch und hat ihre Hände auf einer Tastatur eines Laptops.

Analyse

Man hat die Vernünftigen und die Netten an die Wand gedrückt. Die Social Media-Plattformen wie X, Facebook, Insta- und Telegram mit ihren Milliarden Nutzern prämieren „Edgelording“, also Personen und ihre Meinungen, die im internet über das Radikale, Skandalöse und Emotionalsierende aufmerksam auf sich machen.

Der „extremity bias“ der Medien schafft sich dadurch immer weiter drehende Spiralen kognitiver Verzerrungen. Inmitten dieses Getöses haben Populisten in den sozialen Medien einen klaren Algorithmus-Vorteil. Das Adrenalin dominiert. Was tun mit all dem ungebremsten Hass, der durch die englischen Begriffe „hate speech“, „fake news“ oder „flooding the zone with bullshit“ (kurz: bullshitting) modern, aber eher noch beschönigend beschrieben wird? Ich zeichne sieben Reaktions- und Lösungswege auf.



1) Mitschwimmen und mäßigen 

Die Hate Speech-Versteher unter uns sehen hinter dem Hass ein echtes menschliches Anliegen, dem wir uns zu widmen haben. Es gehört zum Standard-Repertoir, dass ein/e Journalist/in auf eine/n Politiker/in trifft, diesem dann Szenen von Menschen zeigt, die ein wenig zu aufgeregt sind. Und dann wird gefragt: „Sie hören diesen Menschen doch gut zu, oder? Die bringen da doch eine berechtigte Angst zum Ausdruck, oder?“


Der Politiker räuspert sich. Er kann einer so polemisch gestellten Frage nach den „Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger“ nicht wirklich entkommen, es sei denn er will sich der Abgehobenheit und Taubheit bezichtigen lassen. Also hört er zu und versteht. Er verniedlicht die Lynchstimmung der aufgebrachten Menge. Er setzt ihr nichts entgegen, außer, dass er sie auf eine möglichst harmlose Quintessenz reduziert. Er deutet sie um, übersetzt sie in politische Schritte und spekuliert auf Wählerstimmen.


Aus der keifenden Forderung, alle Ausländer, die kein Visum haben, an den Grenzen zurück zu schicken und die bereits in Deutschland lebenden millionenfach zur „Remigration“ zu zwingen - sprich: sie auszustoßen und zu vertreiben, weil sie uns die Arbeitsplätze klauen und mit Autos in Menschenansammlungen hineinrasen – aus dieser Forderung wird so ein „berechtigtes Anliegen“.


Ein Fünf- oder Zehn-Punkteplan wird gebastelt und als Gegenmaßnahme öffentlichkeitswirksam vorgestellt. Im günstigen Fall wird so aus radikal ausländerfeindlichen Forderungen eine pragmatische, nur mittelgradig ausländerfeindliche Politik. Man könnte dazu meinen: Ist doch immer noch besser als gleich zum Nazi zu werden. Und leider muss man zugeben: So funktioniert nun mal die Demokratie – sie geht auf den Willen der Wähler/innen ein, auch wenn der nicht immer nett und stimmig ist. Man könnte aber auch der Ansicht sein: Wer sich auf dieses Spiel einlässt, verzichtet auf den moralisch und politisch gebotenen Widerspruch. Denn das Keifen wird normal, wird im wahren Sinne des Wortes hoffähig. Man ebnet damit den Weg für die Umsetzung böser Worte in böse Taten.

 


2) Der Klassiker - Ruhig und sachlich bleiben

An die Ratio appellieren. Wir sind doch schließlich im Zeitalter der Aufklärung, right?

Das beeindruckt herzlich wenig. Es führt erstens dazu, dass weiter schwadroniert wird:

„Ich habe ein Recht auf meine Meinung, und sei sie noch so falsch.“


Und zweitens, dass frech hinzugefügt wird:

„Ich habe außerdem das Recht auf meine Fakten, und seien sie noch so falsch.“


Das sind die „alternative facts“, die die Trump-Anhänger 2017 bemühten, als der neu gewählte Trump behauptete, seine Amtseinführung in Washington habe Rekordmengen an Menschen auf die Straßen Washingtons geführt. Die Fotos und TV-Aufnahmen widerlegten das ganz eindeutig. Immerhin kann man auf solche Zumutungen antworten: Klar hast du ein Recht auf deine eigene Meinung. Ein Recht auf beliebig erfundene Fakten hast du aber nicht. Die Wahrheit kann man zwar aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, sie ist deswegen aber nicht beliebig.


Hier müsste man sich nun allerdings auf Überprüfungsinstanzen einigen, denen allgemein geglaubt wird. Genau das wird aber immer schwieriger und seltener – die glaubwürdigste Institution Deutschlands ist die Stiftung Warentest und die ist zur Schlichtung gesellschaftlicher Dispute wohl eher schlecht geeignet. Der Meinungsblase im Internet wird bei der Behauptung, dass die Briefwahl gefälscht wird, heute vielfach mehr geglaubt als dem Bundeswahlleiter. Der ist schließlich eine „Systemnutte“. Gleiches passiert mit dem Express-Faktencheck während einer Talkshow. Das ist ja nur ein „Mainstream Medium“. Die „Lügenpresse“ ist die, die etwas schreibt und sagt, was ich nicht gerne glauben möchte.


Wir beobachten also nicht nur eine Erosion der Fakten, sondern zugleich eine Erosion der Instanzen, die uns bestätigen, was wahr und was falsch ist. Was kann man hier tun? Ich glaube, wir müssen dennoch - im Wissen um die Begrenztheit dieses Ansatzes - an den Idealen der Aufklärung festhalten. Im Wissen, dass das, was wir hier vor uns haben, längst ein Triumph der Gegenaufklärung ist. Wir können und dürfen aber nicht aufhören, uns unsere Gesellschaft als eine rationale, evidenzbasierte vorzustellen.


 

3) Nicht nur fühlen, sondern mitfühlen

Der vorangegangener Punkt ist kein Aufruf für eine kalte, nüchterne, nur rationale Gesellschaft, auch wenn uns hier und da ein wenig Lieutenant Spock gut tun könnte. Die Gesellschaft der Menschen ist voller Gefühle und wird es bleiben. Keine Vernunft wird sie je ganz bändigen und soll das auch gar nicht.

Es kommt viel mehr auf die Art der Gefühle an. Auf das, was diese Gefühle hervorruft und auf das, was daraus gesellschaftlich und politisch folgt. Die emotionalen Leitmotive der Populisten heißen Angst, das Gefühl nicht respektiert zu werden, das Gefühl zu kurz zu kommen. Und, daraus resultierend: Wut.


Es gibt förmlich einen Wettbewerb darum, wem es hier und heute am schlechtesten geht. Alle sind nur noch Opfer. Opfer-sein setzt die anderen in Verzug und in eine Schuld, die sie so rasch und so vollständig wie möglich zu begleichen haben. Opfer-sein heißt, dass man sich nur wehrt und dass man nur zurückschlägt. Der Welt gehen die echten Täter aus. All das sind Gefühle mit hohem, wenn nicht ausschließlichem Ich-Bezug. Diese Gefühle mögen jedermanns und jederfraus „gutes Recht“ sein – aber wenn man nur noch sie pflegt und nur noch individuelles Glück verfolgt, wird nichts Gutes daraus.


Etwas Besseres entsteht durch den Perspektivenwechsel, durch das Aushandeln, durch Fairness und Ausgleich. Wir nehmen andere mit und können uns deswegen mehr darauf verlassen, selber einmal mitgenommen zu werden. Auch das sind tief verwurzelte Gefühle und Verhaltensweisen. Wir können und dürfen nicht aufhören, mitzufühlen und uns die menschliche Gesellschaft als eine einander zugewandte und umsorgende vorzustellen. Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob sie wirklich so ist. Es ist nämlich so: Wenn wir aufhören an ein schönes menschliches Miteinander zu glauben wird es schlimm und schlimmer.

 


4) Gegen-Emotionalisieren?

Also auch Brüllen und Beschimpfen? Dafür spräche: die Katharsis. Manchmal muss man einfach etwas loswerden. Man muss nach all der Quälerei selber mal laut werden!

Erstens gibt das dem Brüller jedoch die Aufmerksamkeit (siehe Algorithmus!) und den Gegenwind, die er braucht. Er lebt davon.

Zweitens ist das ja ein unerwünschtes Ergebnis: Erst brüllt der eine und jetzt komme ich und setze einen drauf. Ein Brüll-Chor. Kein Dialog, kein Kompromiss, keine Lösung.

Energie, das stellt sich wieder einmal heraus, ist vergleichsweise leicht in Form einer Bombe freizusetzen, aber schwer in Form von Nutzstrom.

Drittens: Bösebrüller müssen keine Anstandsregeln respektieren. Wenn man sich schweren Herzens als Guter aufs Brüllen einlässt, wird man feststellen, dass man gar nicht so laut und falsch brüllen möchte und darf – sonst steckt man sich ernsthaft an.

Viertens und letztens sind die Bösebrüller in der Mehrheit. Denn Bösebrüllen ist freiwillig und  geschieht in der Freizeit, während Gutbrüllen nur aus einer Notsituation heraus, als ultima ratio entsteht. Es ist ein ungleicher Kampf. Und dennoch wird über Emotionen kommuniziert. Wer auf die wildesten und falschesten Vorwürfe immer nur entweder ruhig und sachlich oder freundlich und geduldig reagiert, kann leicht wahrgenommen werden als jemand, der abwimmelt oder der arrogant überlegen wirken möchte.


Und das regt vielleicht erst auf!! „Mein Gott, was bist du kalt! Siehst du mich und die vielen anderen denn nicht in unserer Not? Aber du stehst da und hältst Vorträge! Und du tust NICHTS, denn DIR geht es ja gut!“. Daher muss man immer wieder mal zu den eigenen Emotionen stehen. Man muss sie zeigen dürfen. Weil man Mensch ist. Die Vorwürfe der anderen sind falsch. Sie sind außerdem ungerecht und gemein, und darüber darf man sich ärgern, muss man sich ärgern und das darf man auch zeigen. Und schließlich: Nicht nur die Brüller sind von den Dingen, die da draußen in der Welt passieren, beleidigt, betroffen und mitgenommen. Auch ich bin es. Aber ich suche nicht dieselben Schuldigen wie sie.


 

5) Den Tanker und das große Ganze steuern. 

Wouw, wouw, wouw, rufen die Amerikaner (ich glaube: nur amerikanische Männer), wenn sie mit tiefer Stimme souverän unterbrechen, beruhigen und die Geschäftsordnung aufrufen. So können wir nicht weiter machen, wollen sie damit sagen. Wir müssen uns auf Spielregeln besinnen, heißt es dann. Wir sehen uns als Schiedsrichter, Richter und Gesetzgeber. Das hieße dann: Die sozialen Medien für Auswüchse haftbar machen, einige der Bösebrüller bestrafen, am besten die Schlimmsten unter ihnen. Es heißt außerdem: An den Spielregeln der Algorithmen im Netz selbst schrauben, künstliche Intelligenz endlich mal sinnvoll dafür einsetzen, „hate speech“ zuverlässig zu identifizieren und zu löschen.


Ob das erfolgversprechend ist? Die Bösebrüller reden sofort von Verboten und vom Gemaßregeltwerden. Sie haben insofern nicht unrecht, als der Ansatz ein erzieherischer ist. Es gibt im derzeit bestehenden Wilden Westen der gebrüllten Aggressionen plötzlich Grenzen, die vorher nicht da waren. Mit einem Mal gibt es einen Sheriff. Aus Sicht der Brüller ist der Sheriff aber nicht ihrer. Wie so oft spielen sie gekonnt die Opfer-Rolle. Sie werden in neuen Codes und Schlüsselwörtern reden, um der Verfolgung zu entgehen. Sie gehen außerdem vor Gericht gegen die neuen Sheriffs, denn die Demokratie hat ihnen nicht nur die Waffen, sondern auch die Gesetze geliefert, mit denen sie selbst nun zu Fall gebracht werden soll. Ich finde den Weg des „Grenzen-Setzens“ daher gut und notwendig – nur ist leider nicht sehr wahrscheinlich, dass er konsequent begangen werden kann.


Es gibt wenig Bereitschaft für einen neuen Sozialvertrag. Oder für ein Gesetz, dass die social media ernsthaft in die Pflicht nimmt. Oder für das Verbot von Parteien, die die Demokratie abschaffen und alle anderen Parteien verbieten wollen. In den USA passiert sogar das Gegenteil. Die allerneuesten Sheriffs sind die Sheriffs der Brüller. „There is a new sheriff in town” sagte Vice President Vance im März 2025 in München, und er meinte Trump. Uns drohte er unmissverständlich: Europa verstoße gegen amerikanische Werte, wenn es, wie von ihm bereits beobachtet, die Redefreiheit in den sozialen Medien begrenzen wolle. Sogar eine stärkere Besteuerung der sich dumm und dusselig verdienenden Plattformen wird bereits als Eingriff in die Redefreiheit interpretiert.

 


6) Divergent denken, Satiriker werden, die Verwirrten verwirren

Man könnte doch ansatzlos den Verschwörungspropheten selbsterfundene eigene Verschwörungen präsentieren und sie damit verwirren. Auch diese Tätigkeit trägt längst einen englischen Namen: conspiracy nudging.

Der Grundgedanke dahinter ist: Die sind ja alle sowieso schon reichlich gaga und brauchen nur einen kleinen Schubser (nudge) um sich völlig zu verstricken und zu versinken. Denn das System der Spinner ist stets instabil. Und weil es das ist, kann es von innen heraus zum Zusammenbruch gebracht oder mindestens der Lächerlichkeit preisgegeben werden.


Schaut, der Kaiser ist nackt! Diese Variante ist was für die Zocker und Joker unter uns. Sie verschafft uns Genugtuung, befreit, bringt uns zum Lachen. Sie setzt der brutalen Vereinfachung, der billigen Unterhaltsamkeit und den schlechten Pointen der einen Seite keine Endlosargumente entgegen, sondern eine – hoffentlich - gelungene Pointe. In ihrer Wirkung ist die Variante trotzdem begrenzt. Vielleicht reicht sie nur für die Rolle des Hofnarren. Vielleicht provoziert und eskaliert sie aber auch dort, wo De-Eskalation notwendig wäre. Sie bringt die Spinner zum verbiestern.


Einen wütenden großen Hund kann man mit einem Stock reizen, solange er hinter einem Zaun die Zähne fletscht. Aber was passiert, wenn eines Tages mal kein Zaun da ist? Undosiert eingesetzt provoziert die Methode eine Götterdämmerung. Wir können Chaos verursachen und vorantreiben. Wir Menschen sind sogar ziemlich gut darin! Nur sind die Schöpfer und Verursacher des Chaos keineswegs seine Herren. Das Chaos kennt keine Herren. Der Ausgang chaotischer physikalischer und sozialer Entwicklungen ist eines ganz bestimmt: ungewiss. Vielleicht würden wir damit eine große, irre zivilisatorische Selbstvernichtung in Gang setzen.

 


7) Ignorieren

Natürlich kann man auch einfach weghören und sein Ding machen. Dafür spricht, dass man den Lauten damit das verweigert, was sie am meisten wollen: Aufmerksamkeit. Dafür spricht, dass man nicht über jedes Stöckchen, das einem hingehalten wird, springen soll und springen kann. Man kann, man darf sich nicht immer auf diese Spielchen einlassen, sondern geht den eigenen Weg. Erwachsen und damit zugleich auch vorbildlich für andere. Diese Variante ist was für die Aristokraten unter uns. Das Risiko liegt auf der Hand: vor lauter Contenance-Bewahren merken wir nicht, dass neben vielem Irrelevanten auch Relevantes geschieht. Wir merken nicht, wie Machtpositionen besetzt und gegenüber anderen bereits brutal eingesetzt werden. An dieser Stelle hört das Spiel auf. Hassreden schlagen um in Drohungen, Drohungen in Diskriminierung. Sie alle schüchtern ein und sollen das auch. An diesem Punkt wird aus vornehmem Weghören misanthropische und feige Weltflucht.

 

Soweit die sieben Mittel, Hassreden zu mildern und zu kanalisieren, sie entweder rational oder emotional zu bekämpfen, sie zu regulieren, zu ridikülisieren und zu ignorieren. Alle haben nicht nur Vorteile, sondern auch Risiken und Nebenwirkungen. Und doch sind sie die Medizin, die wir als Individuen und als Gesellschaft anwenden müssen. Denn von alleine geht das nicht weg.







 
 
 

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