Jugend von gestern und heute, Generationenkonflikte und ein König
- wolframs2004-blue
- 8. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Nov.
Jugend von gestern und heute, Generationenkonflikte und ein König
Die „Jugend von heute“ ist ein altertümlicher Begriff. Auch ich, auch meine Generation der Babyboomer, war einmal eine Jugend von heute. Was damals so ziemlich das gleiche wie heftige Kritik an ihr war. Wir waren nicht ordentlich, anständig und sorgfältig genug, sollten bei der Begrüßung zum Händedruck noch einen Diener und beim volljährig-werden den Wehrdienst machen, brachen mit Schlagerlied-Kultur und gutbürgerlicher deutscher Küche und wussten, dass Männer Männer und Frauen Frauen lieben können ohne deswegen krank oder fehlgeleitet zu sein. Wir lernten englisch und nicht mehr Latein, lernten erst Faxe und dann Computer zu bedienen, erst Kassetten und dann CDs einzulegen, erst emails und dann whatsapps zu schreiben. Wir bekamen an Drogen mehr als nur Alkohol und Tabak angeboten. In den 80er Jahren wunderten wir uns darüber, wie menschliche Zivilisation und Industrie den gesamten Planeten verändern, dass manche Aids als Strafe Gottes ansehen und darüber, dass die Mauer fiel. Wir waren nicht mehr so religiös, nicht mehr so treu und enthaltsam, nicht mehr so Nazi wie die älteren Generationen. Vielleicht verband uns aber mit ihnen, dass jeder von uns einer unter vielen war. Wir waren jemand, der sich schulisch und beruflich anzustrengen und durchzusetzen hatte. Wir waren nicht nur einfach „berufsorientiert“, sondern wurden förmlich zu dem, was wir machten. Depressionen und Phobien? Keine Zeit. Ich sag mal und klopfe mir selber dabei auf die Schulter: eine Wahn-sinns-Bilanz! Wir waren und sind allerdings auch die, die den Konsum in neue Höhen schraubten. Die gesamte Bevölkerung Deutschlands hat heute Platz auf den Vordersitzen der Autos im Land. Die hintere Sitzreihe bleibt leer. In den Urlaub fährt man damit allerdings nicht. Man fliegt. Es kann gar nicht oft und weit genug sein. Anders als die Generation unserer Eltern wussten wir von Anfang an, was dieser Ressourcen- und Umweltverbrauch nach sich zieht. In unserer Lebenszeit ist die Durchschnittstemperatur weltweit um 1,5 Grad gestiegen. Die Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt und Stürme werden zahlreicher und schwerer. Böse Sache, aber der nächste Portugal-Urlaub ist gebucht.
Demgegenüber die heutige Jugend von heute: Eine Generation mit beweglichen und zielsicheren Daumen [Stichwort: Daumensattelgelenkarthrose] für das Bedienen von Handys. Also den Dingern , die den ganzen Tag festgehalten und die für alles Mögliche genutzt werden, in ausgewählten Momenten sogar für die Kommunikation mit Menschen außerhalb der eigenen Blase. Eine Generation, die erst einmal nachdenken muss, wenn man ihr erzählt, dass Christopher Kolumbus, kaum dass er Amerika entdeckt hatte, ein Selfie an seine Königin Isabela von Kastilien geschickt hat. Eine Generation die sich im Irrgarten der Millionen Bildungs- und Konsumangebote schwer tut mit Entscheidungen. Während sie einerseits körperlich wenig aktiv ist, weil sie so gerne chillt, optimiert sie anderseits body and face: Nahrungsergänzungsmittel, Fitnessstudio, Kollagen, Hyaluron und Botox im Dauerbetrieb. Traumjob: Influencer. Denn die sind schön, lustig, beliebt und reich, und das alles auf eine duftige, wolkenleichte Art und Weise. Andererseits türmt sich genau dadurch ein Problem meterhoch auf vor den Normalos der Generation: was passiert, wenn die anderen bereits perfekt und vollendet sind? Und ich selber nicht? Was passiert, wenn sich jenseits der individuellen Ebene dazu auch noch Zivilisationsprobleme auftürmen, vor denen man nicht die Augen verschließen, die man aber auch nicht lösen kann? Eine Pandemie zum Beispiel, während der die ängstlichen Alten dafür sorgen, dass die Jugend sich nicht mehr begegnet, weder in der Schule noch sonstwo. Oder ein soziales Sicherungssystem, das wie ein Pyramidenspiel organisiert ist: die, die zuletzt einzahlen (nämlich die jungen Menschen), sind die, die in die Röhre schauen, wenn das System dereinst zusammenbricht. Das alles in einer Welt, die insgesamt unsicherer, lauter, gewaltbereiter und enger wird. Eine un-heimelige Welt jedenfalls, in der es schwer ist, Selbstwirksamkeit zu erfahren und demzufolge leicht, Depressionen zu entwickeln. Der Umgang mit ihnen hat sich allerdings auch verändert. War früher ein „Depression“ ein endgültiges Urteil für die loser der Gesellschaft, so wird psychologischen Diagnosen heute durchaus etwas abgewonnen. Sie entlasten, weil sie dem achtsamen Betroffenen mitteilen: du hast Anspruch auf Schonung und Rücksichtnahme. Du kannst genesen, wenn du dich nur magst und dich pflegst.
Und dann hat auch diese Generation ihren eigenen Generationenkonflikt aufgespürt und ausgebaut. Uns Babyboomer hat dieser Konflikt, wie es nicht anders sein kann, auf dem falschen Fuß erwischt. Es geht hierbei nämlich nicht ums Tun (da würden wir uns ja auskennen), sondern ums Sein, um Identität. Wir hatten gelernt und gefordert, dass man sich aussuchen darf, mit welchem Geschlecht man Sex hat. Freiheit ist doch wohl, wenn man tun kann, was einem beliebt. Neu ist nun, dass man auch sein kann, was einem beliebt. Das bei Geburt zugewiesene Geschlecht erweist sich für die progressive junge Generation als Zwangsjacke, aus der Mann oder Frau entkommen kann, wenn er oder sie es nur will. Das Bewusstsein bestimmt das Sein– nimm das, Karl Marx! Das Sein wird durch Hormone, Silicone und OPs von Grund auf neu auf- und hergestellt. Alles ist machbar, aber alles ist eben auch ab-machbar. Dass dies mit einem Appell an Toleranz verbunden wird, und dass sich dieser Appell auch auf korrektes gendern erstreckt, ist für manche mühsam. Für mich auch, aber naja, ich finde es schon irgendwie in Ordnung. Die Schraube wird aber immer weiter gedreht. Dann werden weitere gender eingeführt, jenseits von „er/sein“ und „sie/ihr“. Es werden im Deutschen Neo-Pronomen wie "They/them/their" eingefordert, um die Enge der binär geprägten Sprache zu denunzieren und Geschlechtsneutralität herzustellen. Ich meine dazu:
Im Deutschen gibt es glücklicherweise eine neutrale Singularform nämlich „es/sein“. Diese Form ist Teil einer lebendigen Sprache und hat daher nicht auf die Genderdebatte gewartet. Sie wird bereits für allerlei benutzt. Das macht nichts. Das ist nicht Igitt-Igitt. Sie steht zur Verfügung und sollte – gefälligst – genutzt werden.
Der bisherige Verlauf der Debatte legt nahe, dass es mit einer einzigen anderen Form nicht getan ist. Es sind vielleicht nicht 72 gender - wie ein nicht ausrottbares Gerücht im internet behauptet - aber auf jeden Fall deutlich mehr als nur ein weiteres („nicht binär“). Es kommen also künftig viele viele weitere Pronomen auf uns zu.
Und nicht nur das. Auch die Normal-Pronomen „er/sie“ sind binär und daher nicht tragbar (das „es“ wird wie gesagt ja erfolgreich ignoriert). Das gilt nicht nur für den Singular, sondern auch für den Plural. Die gegenderte Form „StudentInnen“ oder „Student*innen“ ist eben lediglich notdürftig „binär gegendert“ und daher unzureichend, auch wenn eine bedeutungsschwangere Pause in der Mitte des Wortes für sich beansprucht, durchaus alle zu meinen. So also nicht. Wer nun allerdings damit prahlt, mit den „Studierenden“ eine sprachsensible und korrekte Lösung gefunden zu haben, der irrt: Erstens weil sich eine solche Umformung bei weitem nicht durchgängig machen lässt – nur dort wo ein Verb, ein Tätigkeitswort zur Verfügung steht. Die Schüler oder die Indigenen zum Beispiel können auf diese Weise unmöglich korrekt gegendert werden. Zweitens, weil Verwirrung gestiftet wird: Wer sagt: „Die weinenden Studierenden“ sät einige Zweifel, ob hier eine Personengruppe vor allem weint oder vor allem studiert – und wie lange. Weinen manche vielleicht länger als die Regelstudienzeit? Denkbar! Drittens und hauptsächlich: Den Studenten und Studentinnen wird dadurch, dass sie nicht „sind“, sondern „tun“, abgesprochen, eine (Teil-) Identität als Student entwickeln zu können. Studieren ist nur vorübergehend. Die wahre Identität, das „Sein“ des Studierenden muss anderswo liegen. Er oder sie ist zum Beispiel Hetero oder Trans, indigen oder katholisch. All das sind offenbar sehr wohl andauernde Zustände des Mensch-Seins.
Sollten wir, all diese Entwicklungen vorwegnehmend, dann nicht lieber vorsorglich pronomenlos durch die Lande ziehen? „Das ist Helges Auto.“ Das würde zugleich dem rückläufigen Genitiv eine neues Ökotop bescheren!
Zurück zu „they/them/their“: Es gibt nicht den geringsten Grund, von einer Person, die Einzahl ist, in der Mehrzahl zu sprechen. Im Gegenteil: Das führt nicht nur zu lustigen Verwechslungen, sondern ist auch historisch belastet. Im Feudalismus hatte der Untertan die Obrigkeit unterwürfigst im Plural anzusprechen: „Was wünscht Ihr, Herr? Ist Euer Pferd verletzt?“ Der Herr antwortete streng und im Singular: „So ist es, Bursche. Gebe er mir sein Pferd, ich muss eiligst zum Schlosse!“
Überzeuge ich mit diesen Argumenten die Jugend von heute? Nope! „Das kannste nicht machen, du verwendest hier total cringe Verteidigungs- und Verhinderungsargumente“, meinte ein progressiver 17jähriger zu mir „Das mit dem „they“ ist doch nun wirklich kein Problem. Jeder und jede und everybody sollte doch wohl so angesprochen werden, wie er oder sie oder they sich fühlen. Und wie er oder sie oder they es möchten. So schwer ist das doch nicht!“ Ich antwortete ihm: „Feinchen. Dann möchte ich sehr darum bitten, mir gegenüber an ungeraden Kalendertagen stets auf folgendes zu achten: Ich fühle mich an diesen Tagen als König und möchte endlich so behandelt werden. Spreche er mich an diesen Tagen fortan daher nur als „Eure Majestät“ an, Bursche!“
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